Dorian Gray
Dorian Gray – Eitelkeit, Selbstsucht, Grausamkeit. Seht ihr es den Menschen an, die diese Gefühle in sich tragen? Kann man ihnen die Laster in den Augen und von den Lippen ablesen, erkennt man sie an der fahlen Gesichtsfarbe und dem höhnischen Grinsen?
Und was, wenn jemand, der die hässlichsten Gefühle, die man sich denken kann, in sich verbirgt, das schönste Gesicht als Maske trägt? Wie gefährlich wäre er für sich selbst und für andere? Diese Fragen stellt sich der Leser des Das Bildnis des Dorian Gray, der einzige vollendete Roman des Iren Oscar Wilde.
Wir wollen ein paar Blicke wagen und kurze Portraits aus dem Leben des schönen, reichen, vielgeliebten Dorian Gray betrachten, um uns von ihm ein eigenes Bildnis zu machen.
Bildnis 1: Dorians Unschuld
Wir befinden uns in einem Atelier. Vor uns sitzt ein Maler, Basil mit Name, der in höchster Konzentration die Augenbrauen zusammenzieht und mithilfe des Pinsels in seiner Hand auf Leinwand bannt, was vor ihm steht. Auf einem Diwan lümmelt ein gewisser Lord Henry und raucht. Seine Lider sind halb geschlossen und wie ein schläfriges Raubtier betrachtet er mit Neugierde und Berechnung denjenigen, den Basil mit größter Zärtlichkeit malt.
Das Modell, auf dem die Blicke der beiden Herren und auch die unseren ruhen, ist ein junger Mann. Sein Name ist Dorian Gray. Es erklärt sich leicht, warum Basil ihn als die Muse seiner Kunst auserwählt hat: Er ist so schön, als wäre er aus Elfenbein und Rosenblättern gemacht, und trägt den arglosen, grundlos fröhlichen Blick der unschuldigen Jugend. – Unverdorben und rein sei er, so hat es Basil seinem Freund Lord Henry berichtet. Deswegen, und wegen seiner betörenden Schönheit, liebt Basil den jungen Mann bis zur Selbstaufopferung. Nur durch ihn hat er seine besten Kunstwerke geschaffen.
Dorian achtet jedoch nicht auf seinen malenden Freund. Gebannt lauscht er den Worten, die aus Lord Henrys Mund kommen, und die einen Gifthauch in sich tragen, wie der Zigarettenrauch, der aus seinen Lippen dringt. Von Schönheit spricht der Lord zu ihm, von dem Wert der Jugend und von allem, was das Leben und all seine Sinne, Verführungen und Betörungen für denjenigen bereithält, der jung und schön ist und der seine Triebe nicht unterdrückt, sondern sie auslebt, auskostet bis zum letzten … Gierig wie ein leeres Gefäß saugt Dorian alles in sich auf. Die Worte des Lords bringen etwas in ihm zum Klingen. Sie decken etwas auf, was bis dahin von Konvention und Anstand bedeckt gewesen war.
Der Maler unterbricht. Er zeigt, was er gemalt hat; ein vollkommenes Portrait Dorians, das seine glänzende Schönheit einfängt. Dorian jedoch zeigt sich nicht erfreut; er ist bekümmert und wütend, denn er weiß jetzt, dass er nicht für immer schön sein wird, dabei ist die Schönheit doch das Wertvollste an ihm, so wie es der Lord gesagt hat … er spricht einen schrecklichen Wunsch aus: Dass das Bild an seiner statt altern solle und er für immer ewige Jugend behalten dürfe; dafür würde Dorian sogar seine Seele geben. Die Männer lachen über die albernen Worte und vergessen sie bald wieder. Dorian jedoch wird sie nie vergessen.
Bildnis 2: Die erste Tat
Es ist wenig später. Wir stehen mit Dorian in einem kleinen schlichten Zimmer, das sich hinter einer Theaterbühne befindet. Die Augen den jungen Gray flammen wütend auf, als er seinen Gegenüber betrachtet: Eine schöne junge Schauspielerin, die seinen Blick voller Liebe und ohne Arg erwidert.
Schlecht habe sie gespielt, ganz furchtbar! Das Herz habe sie ihm damit gebrochen, wütet Dorian. – Das sei aus Liebe zu ihm geschehen, erklärt das Mädchen, während sie versucht, Dorian zärtlich zu berühren; nur aus Liebe, weil sie davor an die absolute Wirklichkeit des Theaters geglaubt habe, nun aber seien nur noch ihre Gefühle für den Geliebten wirklich … Dorian ist außer sich. Ohne ihr Genie, ihre Kunst bedeute sie ihm nichts mehr. Er wolle sie nie wiedersehen. Sie habe seine Liebe zu ihr zerstört, sie sei nichts mehr für ihn. Das Mädchen, tödlich getroffen, sinkt flehend vor ihm zu Boden, doch Dorian kümmert sich nicht mehr um sie; er verlässt den Raum und wir müssen mit ihm gehen.
Ein kurzer Szenenwechsel: Wir sehen noch einmal Dorian in seinem Heim, wie er sich über das Bildnis beugt, das Basil einst von ihm gemalt und ihm geschenkt hatte. Er schrickt zurück; das Bild scheint dasselbe zu sein, und doch … um den Mund des portraitierten Dorian zieht sich ein Zug von Grausamkeit. Kalt und entfremdet blicken die Augen auf den Betrachter und haben ihr ursprüngliches Strahlen verloren … wir betrachten Dorian: Er sieht aus wie zuvor, ein Abbild der jungen Unschuld. Wir schaudern. Der Wunsch Dorians ist in Erfüllung gegangen: Das Portrait ist das Abbild seiner Seele. Was er dem jungen Mädchen angetan hat, zeigt sich nicht in seinem Gesicht aus Fleisch und Blut, sondern nur in dem Gesicht aus Farbe auf Leinwand.
Kurz erwägt Dorian, zurückzugehen; er erkennt, wie grausam und ungerecht er gegen die einstige Geliebte war, das Bild zeigt es ihm deutlich. Doch da tritt Lord Henry ein mit einer Nachricht: Die Schauspielerin ist tot gefunden worden. Sie hat sich vergiftet.
Bildnis 3: Dorians Schuld
Viele Jahre später. Dorians Leben hat sich gewandelt. Äußerlich ist er noch derselbe; wir sehen große Schönheit und ein Gesicht, das uns glauben macht, dahinter könne sich nichts Übles verbergen. Gehen wir jedoch in diesen einen bestimmten Raum in Dorians Heim, den er stets verschlossen hält, und betrachten das Bild darin, dessen Geheimnis er ängstlich hütet, erkennen wir die Wahrheit: In die Züge des Gemalten haben sich Schuld, Grausamkeit und Laster tief eingegraben; uns blickt nicht mehr der unschuldige Junge an, der einst in Basils Atelier stand, sondern eine grausame Karikatur desselben.
Wir hören uns in der Stadt um. Böse Gerüchte um Dorian machen die Runde; man erzählt sich von Frauen, die er ins Unglück gestürzt, jungen Männern, die er verdorben, und Schandtaten, die er begangen hat; doch es fällt schwer, all das zu glauben, wenn man in sein Gesicht sieht, das keinerlei Spuren des physischen oder moralischen Verfalls trägt. Das macht ihn umso gefährlicher und seine Opfer umso argloser. Dorian selbst findet einen perversen Gefallen daran, sein makelloses Äußeres mit dem Bildnis zu vergleichen.
Hemmungslos gibt er sich seinen Gelüsten hin und vermag sie alle zu befriedigen, denn er ist reich, jung und schön. In seiner Welt dreht sich alles um ihn selbst; wenn er Schmerz kennt oder Bedauern um die Vergangenheit, dann ist dieses allein egoistisch motiviert. Andere Menschen will er vielleicht nicht immer vorsätzlich verletzen, aber ihr Schmerz bedeutet ihm nichts. Was mit ihnen geschieht, ist ihm gleichgültig. Er flüchtet sich in beschönigende Worte, die seine Taten verharmlosen, spinnt sie um die Tragödie seines Lebens wie ein funkelndes Netz, das die Sinne verwirrt, dessen Stränge aber so brüchig sind wie die Logik, die sie geknüpft hat.
Denn es ist nicht sein Spiegelbild, geschmückt mit dem Juwel der Schönheit, das alle anderen Geschmeide überstrahlt, welches sein Schicksal bestimmt, sondern das Bildnis des Malers Basil, das Abbild seiner Seele, oben in einem versteckten Raum verborgen, verhasst, gefürchtet.
Bildnis 4: Die letzte Tat
Auch Basil, der Maler, hört von den Gerüchten, die um Dorians Gestalt wabern und die alle anständigen Leute nach und nach dazu veranlassen, sich von ihm fernzuhalten. Er kommt, um Dorian, den er noch immer ehrlich liebt, zur Rede zu stellen. Er spricht sanft, denn er glaubt den Gerüchten nicht, kann er doch in Dorians Antlitz nichts erkennen, das verdorben wäre. Dorian, von einer grausamen Laune getrieben, lacht über des Malers Vertrauen und führt ihn nach oben, wo das Bild unter einem Tuch verborgen lauert. Er zieht das Tuch herunter und offenbart Basil, was aus seinem Portrait, dem einstigen Meisterwerk, geworden ist. Entsetzt fährt der Künstler zurück; er erkennt spät, was Dorian wirklich ist.
Das kann Dorian nicht ertragen; ebenso willkürlich, wie er entschieden hat, das Bildnis preiszugeben, wünscht er sich jetzt wild, er hätte es nicht getan; in einer plötzlichen Raserei springt er vor und tötet Basil, den einstigen Freund, mit einem Messer.
Diese Tat ist eine, die sogar Dorian nicht leicht ertragen kann. Der Wahnsinn greift mit langen Fingern nach ihm und beginnt, an seinem Geist zu zehren. Nach und nach verliert Dorian den Bezug zur Wirklichkeit, zu dem, was oder wer er tatsächlich war und ist. Er sehnt sich zurück nach dem unschuldigen Unwissen seiner Knabenzeit; aber ein Zurück, das gibt es nicht. Er fühlt sich verfolgt, belauert und ständig verurteilt von diesem Bild, dem Bild, das ihn höhnisch auslacht … Wenige Tage, nachdem er den Freund ermordet, nimmt Dorian das Messer, das zu dieser Tat gedient, und geht auf das Bild zu, das sein Gewissen geworden ist: Endlich soll es zerstört werden, endlich wird niemand mehr sehen können, was aus seiner Seele geworden ist, endlich wird er selbst es nicht mehr sehen müssen … Dorian durchbohrt das Bild.
Bildnis 5: Die Wahrheit
Ein letzter Blick: Wir sehen die Bediensteten Dorian Grays, die in dem kostbar eingerichteten Stadthaus ihres Herren die Hände ringen; ein entsetzlicher Schrei hatte sie aufmerksam gemacht. Schließlich fassen sie sich ein Herz und dringen in das Zimmer ein, aus dem der Schrei kam. An der Wand sehen sie ein glänzendes Portrait ihres Herren hängen, so, wie sie ihn kennen, jung und schön. Auf dem Boden liegt ein Mann, den sie nicht erkennen, alt, welk und abscheulich. In seinem Herzen steckt ein Messer.