Auf Heldenreise

Der Held auf Reisen

Auf Heldenreise


Frodo aus Mittelerde. Harry Potter in Hogwarts. Rumo auf der Suche nach dem Silbernen Faden. Jane Eyre, die Waise von Lowood. Parzival, der Schöne. Pippi Langstrumpf auf ihrer bunten Wanderung durch Kinderträume. Katniss Everdeen mit dem Bogen. König Artus. Odysseus. Buddha. Was haben all diese Personen gemeinsam? – Für uns sind sie Held*innen, und Helden sitzen typischerweise nicht vor dem heimischen Ofen und machen es sich gemütlich. Helden ziehen in die Welt hinaus. Helden verändern die Welt. Helden begeben sich auf Heldenreise.

Die Helden heute

Joseph Campbell auf der Suche nach Helden


Erzählungen von Helden und Heldinnen sind so alt wie die Menschheit selbst und faszinieren uns seit jeher. So auch den amerikanischen Professor und Mythenforscher (was für ein großartiger Beruf, oder? Mythenforscher!) Joseph Campbell, der von 1904 bis 1987 lebte. Der Sohn irischer Einwanderer interessierte sich schon früh für die Geschichten und Legenden über Heroen von der Antike bis zur Gegenwart. Er widmete sein Leben dem Mythos. Bei seinen Forschungen fand er etwas Faszinierendes heraus. Der Mythos hat eine Grundstruktur, die sich durch alle Epochen, Kulturen und Religionen durchzieht: Eine Reise, die aus dem Gewohnten in das Unbekannte führt, und die den Reisenden vor Entscheidungen und Prüfungen stellt – äußere und innere Konflikte, die bewältigt werden müssen, damit der Held oder die Heldin schlussendlich auf eigenen Beinen stehen kann.

Campbell nannte diese Struktur, diesen Lebensweg, den alle Helden und Heldinnen gehen, die „Heldenreise“, und machte insgesamt siebzehn Stationen aus, die die Reise prägen. Diese Stadien variieren je nach Erzählung ein wenig, bilden aber in vielen Märchen, Mythen und auch im modernen Hollywood das Grundgerüst der Heldengeschichte.

Die Heldenreise


Begeben wir uns also in den siebzehn Fußstapfen Joseph Campbells auf Heldenreise. Zunächst sind Held oder Heldin ganz gemütlich in ihrem mehr oder weniger normalen Alltag unterwegs und denken sich nichts Böses. Dann rauscht plötzlich eine Aufgabe oder eine Gefahr um die Ecke, etwas, das das Alltagsleben durchbricht und erschüttert: Der Ruf des Abenteuers (1). Oft zögert der Held zunächst, diesem Ruf zu folgen, hat Angst vor dem Ungewohnten und dem Abschied von seinem bisherigen Leben (2), überwindet aber letztendlich seine Furcht, häufig durch die unerwartete Hilfe eines oder mehrerer Mentoren (3), übertritt die Schwelle zwischen dem alten und seinem neuen Leben und macht sich auf die Reise (4).

Der Weg der Prüfungen


Damit aber hat der Held natürlich nicht all seine Ängste abgelegt. Das Ausmaß der Aufgabe, die ihm bevorsteht, ragt über ihm auf, droht ihn zu lähmen (5). Prüfungen erwachsen und stellen sich zwischen Held und Ziel; äußere und innere Konflikte drohen, ihn vom Weg abzubringen (6). Eine jener Prüfungen ist in vielen Fällen die Liebe; dem Helden oder der Heldin tritt das andere Geschlecht gegenüber und nicht selten zieht dieses Ereignis eine Fülle an Komplikationen nach sich (7). Das können wohl auch wir Alltagsheld*innen nachvollziehen. Häufig, wie beispielsweise bei Odysseus‘ Begegnung mit der schönen Kirke, bietet sich als Alternative zum vorherbestimmten Lebensweg des Helden ein vermeintlich schönes, ruhiges Leben an der Seite eines Geliebten oder einer Geliebten an – eine Versuchung, der widerstanden wird (8).

Die Erkenntnis


Ein weiterer emotionaler Meilenstein auf dem Heldenweg ist die Selbsterkenntnis. Held oder Heldin erkennen das Erbe ihrer Vorfahren, das sie in sich tragen; manchmal ist die Erkenntnis erschütternd und es wird offenbar, dass der eigentliche Gegner der Held selbst ist; so etwa Eragon Drachenreiter, der glaubt, dass er als Sohn eines Verbrechers und Mörders auf die Welt kam (9). Das Erbe des Helden, das er erkunden und akzeptieren muss, beinhaltet oftmals göttliches, magisches oder (in Märchen) königliches Potential, das ihn von anderen Menschen abhebt, aber auch Verantwortung und Verpflichtung mit sich bringt (10).

Die Wandlung zum Ende


Diese Stationen der Selbsterkenntnis münden in einer Art „Segnung“, bei welcher der Held nach Campbell ein „Elixier“ erhält, das seine Welt, aus die er zu Beginn aufgebrochen ist, retten oder die Erfüllung seiner Aufgabe bedeuten könnte. Das kann auch eine innere Erfahrung sein (11). Die Schritte (12) bis (15) beschreiben die mehr oder weniger freiwillige Rückkehr des fundamental veränderten Helden in die Alltagswelt. Hier wird er schließlich „Herr über zwei Welten“, vereint die alte mit der neuen Welt und auch die zwei Seiten seines Inneren finden endlich Ruhe (16). Durch diese Leistung des Helden bringt er zudem seiner Alltagswelt und ihren Bewohnern Glück, Frieden und eine neugewonnene „Freiheit des Lebens“ (17). Das klingt doch famos, oder?

Die Treppe des Helden

Helden heute


Campbells Heldenreise wurde mehrmals weiterentwickelt und umgewandelt, beispielsweise von George Lucas, dem berühmten Filmemacher und Schöpfer von Star Wars. Veraltet ist der Stoff keineswegs: Blicken wir auf die reine Fiktion, spielt das Heldenreisemotiv in Film und Literatur auch heute noch eine große Rolle.

Und was ist, wenn wir uns von der Fiktion abwenden? Wie sieht es mit „echten“ Helden heutzutage aus? Kennen wir noch welche, wollen wir sie überhaupt noch? Einen Achill haben wir nicht mehr, auch keinen Odin oder Herkules. Nelson Mandela vielleicht? Oder besonders talentierte Fußballspieler, die das entscheidende Tor im Endspiel schießen? Oder Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren und ihr Leben einer guten Sache widmen. Sind das unsere Helden und Heldinnen der Gegenwart? Welche Relevanz hat das Heldenmotiv in der heutigen Realität?

Die Heldin

Die Heldenreise als Orientierungshilfe


Für mich ist das wirklich Spannende an Campbells Heldenreisemotiv seine psychologische Relevanz. Die Heldenreise ist keine bloße Fiktion – oder sagen wir, sie muss keine sein. Sowohl auf der gesellschaftlichen als auch auf der individuellen Ebene haben Erzählungen von Heroen eine tiefere Bedeutung.

Schauen wir zunächst auf das große Ganze. Jede Mythologie hat nicht etwa nur die Aufgabe, zu unterhalten, sondern vielmehr, das soziale Gefüge einer Gesellschaft widerzuspiegeln, zu kritisieren und Beispiele für ein gelungenes Miteinander, für Richtig und Falsch, Norm und Wert, zu geben. Was man von der Handlungsschablone hält, die da aufgefahren wird, ist jedem selbst überlassen; dass sie aber Einfluss auf das Zusammengehörigkeitsgefühl und das Normen- und Wertegefühl einer Gemeinschaft hat, ist Fakt.

Du und ich – Held und Heldin?


Auch für uns persönlich, für dich und mich, hat die Heldenreise Relevanz. Helden finden wir nicht nur in epischen Erzählungen, hoch zu Ross und gerade dabei, eine Prinzessin aus einem Turm zu retten. Jeder von uns ist Held oder Heldin des eigenen Lebens. Glauben wir Joseph Campbell, dann gibt es in jeder/m von uns eine Bestimmung, einen inneren Ruf, dem es zu folgen gilt. Zwischen Geburt und Tod durchlaufen wir verschiedene Phasen, werden vor verschiedene Prüfungen, Leidenssituationen, Herausforderungen und Versuchungen gestellt: Die Ablösung vom Elternhaus, Umzüge an neue Orte, Liebe und Trennungen, der Verlust geliebter Menschen, ein plötzlicher Shutdown der ganzen Welt aufgrund von einem kleinen Virus und die folgende Einsamkeit, die Herausforderung, seinen Platz in dieser verwirrenden Welt finden …

Daran können wir wachsen, wir können daraus lernen und uns weiterentwickeln; wir können aber auch daran zerbrechen, verbittern oder uns abschotten vor der vermeintlich grausamen Welt. Mythen können hier einen wichtigen Leuchtturm der Orientierung geben, eine Möglichkeit, mit schwierigen Situationen im eigenen Leben umzugehen, eine Handlungsalternative, die da besagt: Glaube an dich. Du wirst Schmerzen erfahren, du wirst leiden und du wirst traurig sein. Aber du wirst daran wachsen.

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