Juli Zeh – Zur Verschmelzung von Sprache und Recht
Ein Buch, bei dem sich das Gehirn nicht langweilt
Als ich das Buch Spieltrieb zum ersten Mal gelesen hatte, dachte ich mir: Das hat wohl jemand geschrieben, der selbst einiges gelesen hat, jemand, der Spaß hat am Denken, am gedanklichen Spiel. Jemand mit kritischem Blick, der das Menschsein ernst, aber nicht zu ernst, und unsere Gesellschaft auseinander nimmt. Die zentrale Frage des Buches: Was passiert mit den Menschen, wenn man ihnen die Wert- und Normvorstellungen, die unsere Gesellschaft lange zusammengehalten haben, wegnimmt – wie beispielsweise die Religion, die heutzutage in unserer westlichen Welt nur noch ein Schatten ihrer selbst ist? In einem Spiel ohne Regeln? Wenn sie auf sich allein gestellt sind mit der großen Frage „Was ist richtig, was ist falsch?“ Kann ein Individuum ohne fixe Ankerpunkte moralische Entscheidungen treffen? – Ein Buch, bei dem sich das Gehirn nicht langweilt.
Ich drehte das Buch um und las: Juli Zeh. Eine Autorin, von der ich bis dahin schon viel gehört, aber noch nichts gelesen hatte. Mein Interesse jedoch war von nun an geweckt und ich begann, nachzuforschen über eine der erfolgreichsten zeitgenössischen Schriftstellerinnen in Deutschland.
Juli Zeh als Autorin & noch mehr
Wird man mit Juli Zehs Werdegang konfrontiert, schluckt man zunächst einmal; diese Aneinanderreihung von Errungenschaften, Preisen und ausgezeichneten Abschlüssen beeindruckt. Geboren 1974 in Bonn, im sommerlichen Juni; Abitur, Studium der Rechtswissenschaften in Passau, Krakau, New York, Leipzig. Jahrgangsbeste in ihrem ersten Staatsexamen; was das bedeutet, weiß jeder, der Jurastudenten zu Freunde hat. Ein Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, quasi nebenher abgeschlossen. Eine Promotion in Rechtswissenschaften an der Universität des Saarlandes, gefolgt vom Deutschen Studienpreis; heute Schriftstellerin, ehrenamtliche Richterin, außerdem zweifache Mutter, journalistisch tätig, Trägerin zahlreicher Preise und leidenschaftliche Reiterin eigener Pferde.
Die Frau hat zu tun. Gesellschaftlich-politisch engagiert ist sie ebenfalls, eine der führenden Intellektuellen Deutschlands. Auch in der aktuellen Krise, der Covid-19-Pandemie, vertrat und vertritt sie einen klaren Standpunkt: Die Freiheitseinschränkungen seien, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt in Deutschland, nicht mehr nötig und sollten größtenteils aufgehoben werden. Diese Position in einer emotionsgeladenen und unübersichtlichen Lage brachte ihr durchaus Kritik ein; ihre Meinung sagt sie trotzdem.
Zeit für Bestseller?
Woher nimmt Zeh neben all dem bloß die Zeit, Bestseller zu schreiben? Will man ihr glauben, dann: Sie nimmt sie sich kaum. Im Schnitt schreibe sie eine halbe Stunde pro Tag, meint die Autorin in einem Interview mit Deutschlandfunk; es komme eben darauf an, wie viele Seiten man in kurzer Zeit schaffe. Das dürften im Falle Juli Zehs dann wohl einige sein. Sie gehe in ihrem Schreiben auf, sagt sie in einem Gespräch mit Randomhouse, so beispielsweise auch bei ihrem Roman Unterleuten; zehn Jahre lang hätte sie in ihrer Phantasie in diesem Dorf, das den Rahmen der Handlung bildet, gelebt: „ich kenne dort jeden Stein, jede Hausecke, alle Menschen, die dort leben.“ Es sei vorgekommen, dass sie ihren Mann gefragt habe, wie es eigentlich der Linda gehe; nur um zu merken, dass Linda eine fiktive Person aus Unterleuten ist …
In diesem Roman geht es um eine Dorfgemeinschaft, das Leben auf dem Land, ein Leben, das auch Zeh für sich und ihre Familie gewählt hat. Was sie am Dorfleben fasziniert? – Gerüchteküchen, sagt sie. „Alle reden ständig übereinander und häufig reden sie überhaupt nicht miteinander … und in Wahrheit weiß niemand etwas.“ – Das dürfte allerdings auch Stadtkindern bekannt vorkommen.
Wie es in Juli Zehs Haus auf dem Land aussieht? – Alles voller Akten, sehr zum Ärger ihres Mannes, meint sie gegenüber Deutschlandfunk. „Ja, ich lese gerne Akten. Ich finde Akten toll.“ Diese Liebe zur Rechtswissenschaft verschmilzt auf eigenartige, aber fruchtbare Weise mit Juli Zehs Werken.
Sprache & Recht
Juli Zeh zeigt sich fasziniert davon, wie Verbrechen entstehen. Davon zeugen nicht nur ihr Studium der Rechtswissenschaft und ihre Arbeit als Richterin, sondern auch ihre Bücher. Denn Sprache und Recht, das hängt zusammen, so Zeh; sie halte die Rechtswissenschaft für eine „narrative Wissenschaft“. Wann ist etwas ein Verbrechen und wann nicht? Erst dann, wenn man es beim Namen nennt? Nennt man eine Tat Mord oder nicht? Totschlag vielleicht? Nennt man eine Tat überhaupt „Verbrechen“ und was passiert, wenn man es nicht tut? Folgen dann Sanktionen, wenn ja, welche, und wenn nein, was folgt dann?
In Wahrheit, so denkt Zeh, gibt es kein Schwarz und Weiß, keine bösen und guten Menschen, keine klare Grenze. Gegenüber Randomhouse meint Zeh, dass in Wahrheit die wenigsten Menschen etwas Böses wollen, und dennoch geschehen so viele schreckliche Dinge auf der Welt … wie? Auf diese Frage versuchen ihre Werke nicht die Antwort zu finden, denn die Antwort darauf gibt es wohl nicht, wohl aber eine mögliche Antwort zu finden; ihre Geschichten sind Versuchsanordnungen aus Tinte, freie und fiktive Räume, in denen Trieben nachgegangen, Impulse gelebt, Verbrechen ausgeführt und vielleicht gesühnt werden – wie entstehen moralische Dilemmata und (Fehl-)Entscheidungen, was bedingt sie, was sind ihre Folgen für den Menschen und seine Umwelt?
Juli Zeh spricht in einem Interview mit Der Zeit darüber, dass der Ausgang ihrer Geschichten, das „Richtig“ und „Falsch“, das ihre Figuren wählen, sie nicht selten selbst überrasche. Sie kenne den Ausgang nicht, sondern folge dem Geschehen und den Handlungen ihrer Charaktere; ein wirklicher Versuch eben, ein Ausprobieren. Dass es dabei nicht immer fröhlich zugeht, sei in Ordnung: „Bücher, worin alle glücklich sind, sind nicht interessant.“
Und auch Gerechtigkeit sei in ihren Büchern nicht das letzte Ziel; ebenso wenig wie in der Rechtsprechung, so Zeh. Wie bitte? Recht ohne Gerechtigkeit, und das von einer Juristin, einer Richterin? – Eben genau dann. Nicht Gerechtigkeit, sondern Rechtsfriede, das könne die Rechtswissenschaft leisten, so Zeh, und das, nicht mehr, dürfe man von ihr mit Fug und Recht erwarten.
Traust Du Dich?
Sich in eine Welt der Verbrechen hineinzuversetzen, in den Geist mordlustiger Menschen, verführter Jugendlicher, psychisch verwirrter und moralisch verirrter Persönlichkeiten, das wirkt weder leicht noch unproblematisch. Zeh meint gegenüber Der Zeit, es sei nicht schwer, bloß eine Frage des Sich-Trauens; sie nehme Impulse, die sie aus ihrem alltäglichen Leben kenne, Gefühle, die sie verspüre, denen sie jedoch nicht freie Bahn lasse, und würde sie in ihre Bücher, in die Figuren einfließen und ihnen auf der Versuchsbühne der Literatur freien Lauf lassen.
Was passiert, wenn man die Restriktionen und sozialen Zwänge, die uns Tag für Tag begleiten und im Keim ersticken, was nicht konform ist, einfach wegstreicht? Man sei nicht nur eine Person, meint Zeh; man sei tausend Personen, habe tausend verschiedene Gefühle, Facetten, Impulse; in allen stecke ungeahntes Potential, das meiste jedoch werde nie ausgelebt. Was geschieht, wenn man es eben doch auslebt, davon erzählen ihre Geschichten. Und das macht sie so faszinierend und erschreckend zugleich.