Die Magie der Worte
Zaubersprüche und Segen im Mittelalter
Sprache bedeutet Macht. Worte haben Einfluss. Eigentlich wissen wir das alle. Manchmal glaube ich allerdings, wir vergessen heutzutage, wie viel ein Wort tatsächlich auszurichten vermag, dass es gleichzeitig heilen und verletzen, erregen und betrüben, lachen und weinen machen kann.
Wer das nicht vergessen hatte, waren unsere Vorfahren, viele, viele Jahre vor unserer Zeit, im Mittelalter, als Magie noch um jede Ecke lugte und man sich der Tatsache mehr als bewusst war, dass Sprache Herrschaft bedeutet.
Eine kurze Zeitreise
Es hat es nie eine Zeit gegeben, in welcher der Mensch nicht danach strebte, die ihm gegebenen Umstände zu verbessern, einzuwirken auf seine Umgebung, ihre Grenzen auszuloten – und zu überschreiten. Was für moderne Gesellschaften Stoff ist für Märchen, für ganze Bücherreihen und phantastische Filme, war im Mittelalter Teil des Alltags. Die Rede ist von Magie.
Es ist vielen vielleicht nicht bewusst, aber ein Mensch, der im elften oder zwölften Jahrhundert lebte, glaubte an Magie. So richtig. Nicht auf eine Weise, die wir heute belächeln, nein, damals war der Zauber eine anerkannte und vielfach praktizierte Wissenschaft der führenden Denker und Mediziner.
Hokuspokus?
Magie folgt archaischen Denkkonzepten, die heutzutage zumeist vergessen, aber in ihrem situativen Kontext durchaus rational sind, nämlich als ein Versuch der Weltbewältigung. Das Schicksal erscheint uns ja auch heute noch als unberechenbar und oft genug als unverständlich. Im elften und zwölften Jahrhundert konnte man sich nicht auf moderne Wissenschaften (oder Google) verlassen. Krankheiten und Naturereignisse, ja, sogar das Wetter, stellten unerklärliche Phänomene dar, denen man mit menschlicher Kraft nicht beikommen konnte. Magie übernahm die Aufgabe der Welterklärung. Sie lieferte eine Möglichkeit der Handlung, ein Ordnungssystem, das ein gewisses Maß an Sicherheit und Orientierung bot. Man sollte also mit dem so schnell zur Hand fallenden und historisch durchaus wandelbaren Begriff „Aberglauben“ vorsichtig sein.
In medizinischen oder religiösen Sammelhandschriften des Mittelalters finden wir also nicht nur Rezepte, Kräuterglossare und Gebete, sondern auch eine beträchtliche Anzahl an Zaubersprüchen und magischen Segen. Die mittelalterliche Sprachmagie war eng verwandt vor allem mit drei Bereichen: Der Medizin, der Religion und den Wissenschaften.
Magie und Medizin
Das Leben der Menschen im Mittelalter wurde, neben Kriegen und Naturkatastrophen, am meisten bedroht durch Krankheiten aller Art. Wie groß diese Gefährdung war, zeigt die Tatsache, dass der größte Teil aller Zaubersprüche der Heilung oder Vorbeugung von Krankheiten dient, hinter denen man häufig übernatürliche Ursachen vermutete. So bedrohlich diese Vorstellung auch sein mochte; mit einem Dämon oder gesundheitsschädigendem Wurm hatten die Menschen zumindest ein Feindbild vor Augen, gegen welches sie vorgehen konnten.
Und wie besiegt man einen Dämon? – Richtig, mit der Hilfe von Magie. In den Medizinbüchern und Abhandlungen der Schule von Salerno beispielsweise wurden magische Praktiken ebenso hoch gewertet wie medizinische Vorschreibungen; dabei ging es um Talismane, magische Sprüche und Handlungsanweisungen, die den Kranken heilen sollten.
Interessanterweise ist der Erfolg einiger dieser Handlungsanweisungen logisch; bei einem Anfall von Epilepsie, damals Fallsucht genannt, dauerte der magische Spruch einfach so lange, bis ein durchschnittlicher epileptischer Anfall nun mal von selbst wieder vergeht. Diesen Erfolg schrieb man dann ohne Zweifel den magischen Kräften zu, die man freigesetzt hatte … und wer weiß?
Magie und Religion
Es mag zunächst paradox klingen, dass Magie und Religion im Mittelalter so nahe beieinander lagen; war da nicht irgendwas mit Hexenverbrennung? Ja richtig, allerdings erst um einiges später, vor allem in der Frühen Neuzeit. Im frühen Mittelalter war es mehr als üblich, in religiös-magischen Sprüchen und Segen Heilige aus der Bibel um Hilfe anzurufen.
Die Sprüche, die uns heute überliefert sind, haben alle eine christliche Form, soll heißen, berufen sich auf den christlichen Glauben; jedoch sind sie nicht alle christlichen Ursprungs, sondern wurden im Zuge des immer größer werdenden Einflusses von Religion bloß umgeschrieben. In einige germanische Zaubersprüche wurde beispielsweise einfach for good measure der Name eines Bibelheiligen geworfen, um ihn unverdächtig klingen zu lassen. Denn natürlich; irgendwann waren der Kirche diese alten, heidnischen Segen und Sprüche suspekt und sie begann, jene systematisch auszumerzen – oder eben für ihre Zwecke einzuspannen, vor allem auch im Kontext von (Wunder-)Heilungen. Hier schließt sich der Kreis zwischen Magie, Medizin und Religion.
Magische Performanz
Wie wurden uns all diese Zauberwerke überliefert? Ihre Überlieferung ist vor allem Mönchen zu verdanken, welche sie innerhalb ihrer Klostermauern niederschrieben und weitergaben, meistens in marginaler Form, also am Seitenrand anderer Schriften.
Das Gesicht der Magie im Mittelalter ist vieldeutig. Es gab Jagd- und Bannzauber für Raubtiere, Heilsegen, Schad- und Abwehrzauber, man raunte Beschwörungen gegen Dämonen, sang zur Segnung von Vieh oder von Pfeilspitzen, damit der Pfeil nicht sein Ziel verfehle und es gab Wetterzauber, welche eine gute Ernte garantieren sollten. Nichts, für das man nicht einen guten magischen Spruch parat hätte.
Dabei war auch der Zeitpunkt und der Ort der Beschwörung von Bedeutung; zum Beispiel Vollmond- und Neumondnächste waren die Zauberzeit schlechthin, sogar den Wochentagen wurde unterschiedliches magisches Potential zugeschrieben.
Vor allem aber war die Sprache hierbei wichtig, die performative Macht des Wortes. Sprach man den Namen eines Dämons oder eines Heiligen oder einer Heiligen als Unterstützer*in aus, kreierte dies eine Art magisches Band zwischen der verfluchten bzw. geheiligten und der sprechenden Person (genannt „Sympathie“). Sprach man ein Wort aus, beging man also gleichzeitig eine Handlung, wie beispielsweise, wenn man sich das „Ja“-Wort gibt; ein einfaches Wort, das aber innerhalb unserer Gesellschaft ein sehr festes Band knüpft und an dem sehr viel mehr als ein kurzer phonetischer Laut hängt.
Mittels dieser geknüpften Verbindung also war es nach dem Glauben des Mittelalters möglich, zu beeinflussen und zu lenken. Ein Text besitzt magisches Potential, ein Wort ist Magie, ein Name ist Macht.
Magie heute?
Spannend wäre auch ein Blick auf Magie um heutigen Kontext. Was ist Magie eigentlich heutzutage? Haben wir den Glauben an Magie und magische Worte wirklich ganz abgestreift und gehen „aufgeklärt“ durch das 21. Jahrhundert? Finden wir Magie nur noch in Büchern?
Ich glaube nicht. Man muss nur einmal an das „Reliquienwesen“ in Verbindung mit Schlager-, Sport- oder sonstigen Stars denken, das zu regelrechter Massenhysterie führen kann. Gewisse Sprüche oder Gesten wie „Toi toi toi“ oder dreimaliges Auf-Holz-Klopfen erinnern stark an magische Wiederholungsgesten aus dem Mittelalter. Im Gottesdienst wird immer noch ein segnendes Kreuz geschlagen und Gebete werden noch immer gesprochen. Der Wirkmacht der Natur wird so einiges zugesprochen, beispielsweise kauft eine beachtliche Menge an Leuten Mondkalender, um danach ihre Pflanzen zu gießen, Liebesbeziehungen zu pflegen und Landwirtschaft zu betreiben. Manche richten sogar ihren Friseurbesuch nach dem Mond.
Da soll nur mal einer sagen, wir haben den „Aberglauben“ überwunden. Aber ganz ehrlich: Was wäre das Leben ohne eine Prise von Magie?