Fantasy: Ein kleiner Rundgang durch den Irrgarten

Fantasy: Ein kleiner Rundgang durch den Irrgarten

Feuerspeiende Drachen aus versunkenen Welten, uralter Zauber und tänzelnde Elfen, unlösbare Rätsel und gnadenlose Kämpfe, eine Entscheidung zwischen Leben und Tod. Dann: Ein Wecker klingelt. Ich blicke mit glühenden Wangen auf und schlage das Buch zu. Die magischen Wesen verstummen. Ich bin spät dran für eine Verabredung, das passiert mir beim Lesen öfters. Schnell lege ich das quadratische Portal zu einer anderen Welt auf den Stapel zu den übrigen Büchern, schwinge mir einen Schal um die Schultern und eile aus der Tür, in die reale Welt, im Geiste aber noch bei grummeligen Zwergen und geheimen Schätzen, im Stein verborgen.

Beim Treffen mit meinem Freund berichte ich begeistert vom Erlebten, von der gefährlichen Aufgabe, die der Held meines Buches bestehen muss; von Gefahren, die es zu überwinden und Belohnungen, die es zu erringen gilt. Währenddessen wird der Kaffee vor mir kalt. Irgendwann, nach einigen Minuten enthusiastischer Ergüsse, fragt der Freund dazwischen: „Klingt ja cool, ist das jetzt High Fantasy oder Low Fantasy?“ – Wie? High oder Low, naja, es ist gut, es ist Fantasy, was willst du denn jetzt von mir? Das war der Moment der Erkenntnis, dass ich zwar Fantasy gerne lese und immer selbstzufrieden meine, ich würde mich auszukennen, aber eigentlich keine Ahnung davon habe, dass Fantasy nicht gleich Fantasy ist. Also bin ich mal eingetaucht in die Welt hinter den Welten und nehme dich in den folgenden Zeilen mit auf die Reise …

Zum Hintergrund von Drache, Elb & Co.


In der Mitte des Irrgartens der Fantasy steht ein Baum, groß und weitverzweigt, dessen Wurzeln tief in den Boden reichen, bis zurück in die Antike. Die Ursprünge der Fantasy liegen in Sagen, Märchen und Heldenepen begründet, beispielsweise in Homers Ilias, dem Nibelungenlied, der Odyssee oder den ritterlichen Sagen um König Artus. Diese Geschichten wurden immer weiter erzählt und nie vergessen. Jahrhunderte später, in der Romantik, beginnen Schriftsteller wie Ludwig Tieck, Edgar Allan Poe und E.T.A. Hoffmann damit, übernatürliche Elemente in ihre Geschichten mit einzubinden. Mystik und Magie erhalten ihren festen Platz in der Literatur. Als eigenes Genre entstand die Fantasy allerdings erst im 20. Jahrhundert mit J.R.R. Tolkiens bahnbrechendem Herr der Ringe.

Die Quelle der Fantasy


In der Mitte des Gartens, am Fuße des Baumes mit den weitverzweigten Ästen steht ein Zwerg namens Bhrog, der unser Reiseführer durch den Garten sein soll. Er geht mit strammem Schritt voraus, doch aufgrund seiner kurzen Beine können wir gut Schritt halten. Bhrog spricht nicht viel, ist eher wortkarg. Sein langer Bart und die tiefen Stirnfurchen können ebenso einschüchternd wirken wie die Axt an seiner Seite, doch seine Augen funkeln freundlich unter buschigen Augenbrauen. Bhrog führt uns in einen Hain zur Quelle, der Mutter aller Fantasy, der „klassischen“ High Fantasy. Um die Quelle herum tummeln sich Einhörner, Drachen und Zentauren; Elben üben sich im Bogenschießen und Zwerge stehen über Diamanten gebeugt, die sie aus dem nahen Fels geborgen haben. Wir erkennen über uns die Drachendame aus Christopher Paolinis Eragon und vor uns sitzen die Gefährten aus Herr der Ringe in einträchtiger Runde (nur Pippin und Merry sind wieder irgendwo Gemüse klauen). George R.R. Martin, Trudi Canavan und der geniale Patrick Rothfuss haben hier ihren Stammsitz. Letzterer ist stirnrunzelnd über ein Manuskript gebeugt. Man munkelt, so sitzt er schon seit Jahren da.  

Die innerhalb der High Fantasy gezeichnete phantastische Welt ist häufig mittelalterlich angehaucht, voller Magie im Stil Tolkiens und mit liebevollem Detail gestaltet. Meist beherrscht die Idee der abenteuerlichen „Quest“, der gefährlichen Aufgabe, die von einem oder mehreren Helden gelöst werden muss im Kampf gegen den Widersacher, die Geschichte – der typische ewige Krieg zwischen Licht und Dunkel, Gut und Böse.

Abwärts geht’s – zur Low Fantasy


Bhrog führt uns fort vom heiligen Hain der High Fantasy. Wir nehmen ein paar Abzweigungen, die uns bergab führen und brauchen nicht allzu lange, um zur nächsten Station zu kommen, dem Stützpunkt der Low Fantasy. Bhrog hat sich auf dem Weg kaum merklich immer weiter verändert; er ist größer geworden, muskulöser, seine Schritte greifen weiter und sein Bart scheint bei genauem Hinsehen ganz verschwunden … Tatsächlich erinnert er uns mittlerweile auffällig an Conan den Barbaren.

Wir schauen uns um. Die Low Fantasy folgt nicht ganz den „hohen Standards“ ihrer großen Schwester; hier geht es im Sinne der Abenteuer- und Pulp-Literatur vor allem um das Spektakel. Weniger das Schicksal einer ganzen Welt, sondern vielmehr der Lebensweg einer einzelnen Figur wird thematisiert, die auch nicht immer nur Held*in sein muss, sondern deren moralische Ambivalenz ebenfalls Thema sein kann, während sie sich in einer fiktiven Welt (über-)natürlichen Problemen stellt.

Zurück zur Realität? Die Abzweigung zur Contemporary & Urban Fantasy


Bhrog / Conan stapft uns weiter voraus. Aus dem Augenwinkel beobachten wir ihn und wieder verändert sich sein Erscheinungsbild, je weiter wir uns von der Low Fantasy entfernen. Mittlerweile sieht er aus wie ein ganz normaler Mensch, nur in seinen Augen funkeln noch der Zwerg Bhrog und der Kämpfer Conan. Wir betreten eine weite Lichtung und stoßen beinahe mit einem schlaksigen Jungen mit Brille auf der Nase und Narbe auf der Stirn zusammen, der „Tschuldigung“ murmelt, seine Brillengläser gerade rückt und davonstakst, an seiner Seite ein großer rothaariger Junge und ein Mädchen mit extrem buschigem Haar. Alle drei tragen seltsame kurze Stöcke in der Hand. Die Jugend von heute, denken wir uns kopfschüttelnd und drehen uns wieder nach vorn.

Wir sind bei der Contemporary oder Urban Fantasy angelangt. Die Welt, die sich hier vor uns auftut, hat deutliche Ähnlichkeit mit der unseren und einen klaren Realitätsbezug, der allerdings gebrochen wird durch phantastische Elemente. Wir sehen quasi unsere irdische Welt, neben der noch eine phantastische Parallelwelt existiert, in der Magie real ist, zu der aber nur wenige Auserwählte Zugang haben. Auf der Lichtung der Urban Fantasy stehen die Büros einiger zeitgenössischer Fantasyautoren; auf den Klingelschildern erspähen wir unter anderem die Namen von J.K. Rowling, Rick Riordan, Wolfgang Hohlbein und Kai Meyer.

Nur keine Angst … hinein ins Dunkle


Unser Wegführer winkt uns wieder weiter. Diesmal nehmen wir einen verschlungenen Pfad, der in einen dunklen Wald führt. Nebel steigt auf und verschluckt unsere Schritte. Uns wird leicht unheimlich; auch Bhrog oder wie auch immer er heißt sieht auf einmal verdächtig blass aus; seine Augen glühen rot und einmal fragen wir uns, ob wir da gerade etwa Fangzähne gesehen haben. Da wir aber unerschrockene Abenteurer sind, ignorieren wir den Schauer, der unseren Rücken herabläuft, drücken eben diesen durch und lassen uns von ein bisschen Gruselgeschichte nicht aufhalten, auch diesen Teil der Fantasy zu erkunden, der Dark Fantasy genannt wird. Auf unserem Weg winken uns unter anderem Stephen King, Andrzej Sapkowski und Stephanie Meyer zu.

Die Richtung der Dark Fantasy ist tendenziell dem Horror- und Gruselfaktor zugewandt; wir haben hier alles Mögliche – Vampire, sonstige Untote, dystopische Weltvorstellungen, moralisch ambivalente Antiheld*innen. Wir halten nach Happy Ends Ausschau, aber so viele gibt es nicht, die sind hier eher optional.

Und der Weg geht noch weiter


Die Subkategorien der Fantasy hören hier nicht auf. Stundenlang noch folgen wir Bhrog, dem gestaltwandlerischen Zwerg, durch den Garten der Fantasy. Wir treffen auf einen Vertreter der Humoristischen Fantasy, Walter Moers, der sein Gesicht hinter einer Maske verbirgt, gerade wieder einen Orm-Anfall erleidet und hastig auf einem Papier herumkritzelt. Die Warrior Cats schnurren um unsere Beine, Schöpfungen von Erin Hunter aus der Animal Fantasy. Zeitreisende aus Zeitreisegeschichten wie Feuer und Stein von Diana Gabaldon und die Frau des Zeitreisenden höchstselbst mit ihrer Schöpferin Audrey Niffenegger schlendern an uns vorbei und machen einen etwas unsteten Eindruck. Lyman Frank Baum und Michael Ende schwingen die Federn im Bereich der Kunstmärchen. „Liest sich deine Geschichte auch so phantastisch wie meine?“, fragt der eine stolz. „Unendlich“, erwidert der andere.

Wir könnten auch noch vorbeischauen bei der Science Fantasy, einem fruchtbaren Feld, wo Science Fiction und Fantasy zeitgleich blühen, oder der All Age Fantasy, einem Spielplatz für alle Altersklassen; wir könnten der Bibliothek, in der die Fakultäten der Pseudohistorischen Fantasy und der Pseudodokumentationen tagen, einen Besuch abstatten und beim Diskussionskreis der Sozialen Fantasy mitdebattieren. So langsam aber sind unsere Füße müde und wir bis obenhin voll mit Eindrücken. Unser Begleiter, der Zwerg-Barbar-Vampir, bringt uns wieder an den Eingang des Gartens, ein breites Grinsen auf dem Gesicht, als wisse er ganz genau um unsere verwirrte Faszination. Schweren Herzens verlassen wir dieses Wunderland, aber einen Trost gibt es: Wir kennen nämlich den Weg zum Portal, das uns in Sekundenschnelle zurückbringen kann: Die nächste Buchhandlung.

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