Shakespeare und seine Welt
Shakespeare – der Mann, der Dichter, die Legende. Man verehrt ihn und seine zeitlosen Werke; die bekanntesten davon hat fast jeder auch mal gelesen – hier und da Ausschnitte; in der Schule gebüffelt, mal im Theater gesehen oder auf dem heimischen Lesesessel verschlungen, Taschentücher und Beruhigungspillen zum Greifen bereit. Wir wissen um vielen Lärm, den man um Nichts macht; haben geweint mit Romeo und Julia und gebangt um Othello; gezähmt wurde vor unseren Augen die Widerspenstige (oder vielleicht auch nicht?); es regierten und starben Kaiser, Könige und Prinzen aus Dänemark und wir haben den Aufstieg und Fall der Macbeths atemlos verfolgt.
Woher nahm Shakespeare all diese Geschichten?, habe ich mich oft zwischen Fassungslosigkeit und Begeisterung gefragt, wie zur ***** fällt ihm das alles ein?
Ja … wie eigentlich? Tatsächlich, und das überrascht vielleicht, entsprangen Shakespeares Werke nicht reiner Fiktion. Die meisten beruhen auf äußerer Inspiration. Shakespeares Welt, das Zeitgeschehen, Zeitungsartikel, Theaterstücke, Briefe, Biographien, Legenden – all diese Dinge und manchmal alle zusammen gaben dem großen Dichter die Ideen ein, die er umwandelte in jene Kunststücke, die uns heute vorliegen und Zeugnis davon ablegen, wie wunderschön Sprache wirklich sein kann.
Auf den Spuren der Ursprünge von Shakespeares Geschichten reisen wir heute zurück in die Welt des 16. Jahrhunderts, in die Welt der Könige, der Intrigen und Kriege, der großen Liebestragödien – in die Welt des Shakespeare.
Shakespeares Hamlet, Prinz von Dänemark
Die Geschichte von Hamlet gibt es schon sehr viel länger als Shakespeares Feder. Die Sage ist nordischen Ursprungs und erstmals im 12. Jahrhundert niedergeschrieben worden; hier nennt man sie noch die Erzählung von Amleth. Ein gewisser François de Belleforest nahm die Sage in seine Sammlung Tragischer Geschichten auf und erweiterte sie bedeutend. Die Sage selbst, aber auch Belleforests Ergänzungen, werden die Hauptquellen Shakespeares gewesen sein.
Oder … gab es bereits vor Shakespeares Hamlet ein anderes Theaterstück desselben Inhalts, geschrieben von einem ganz anderen? Manche Forscher vermuten das jedenfalls, glauben an einen „Ur-Hamlet“, geschrieben von Thomas Kyd. Anlass zu diesem Glauben geben u.a. Tagebucheinträge von Zeitgenossen, die auf frühere Versionen eines Hamlet-Stückes anspielen. Einer davon ist etwa der Theaterdirektor Philip Henslowe. Das würde bedeuten, dass Hamlet ein bereits vorhandenes Stück als Grundlage verwendet hätte (nicht unbedingt ungewöhnlich).
Ein kleiner Teil des Hamlet, die Erzählung der Ermordung Gonzagos („die Mausefalle“), beruht wahrscheinlich auf dem historischen Tod des Herzogs von Urbino im Jahr 1538. Es wurde gemutmaßt, dass er vergiftet worden sei und unter Folter (wie verlässlich das ist, weiß man also nicht) gestand sein Arzt die Tat; er habe ihm Gift ins Ohr geträufelt, so meinte er, auf die Anweisung eines Verwandten der Herzogin hin … Hui, Familiendrama.
Shakespeares Ein Sommernachtstraum
Bei dem zauberhaften Stück Ein Sommernachtstraum spielt keine Einzelquelle die Hauptrolle, sondern viele verschiedene Vorlagen bilden das bunte Geflecht, das den Traum möglich macht:
- Details für das Paar Theseus und Hippolyta sind Plutarchs Biografie des Theseus entnommen.
- Der Streit der Verliebten und die Vorbereitungen der Hochzeitsfeier erinnern stark an Geoffrey Chaucers Erzählung des Ritters von Palamon und Arcites.
- Zettels Verwandlung in einen goldenen Esel wurde inspiriert durch Apuleius‘ Der Goldene Esel.
- Stoff für die Darstellung seiner Elfen fand Shakespeare in den Werken von Scot, aber auch in Spensers Epos Die Feenkönigin. Mündliche Überlieferungen und Legenden über das magische Volk der Elfen grassierten natürlich schon viel länger.
- Der Name der Feenkönigin Titania ist wohl Ovids Metamorphosen entnommen (die übrigens auch bei der Handwerkeraufführung eine Rolle spielen); die Göttin Diana trägt im Lateinischen nämlich an mancher Stelle den Namen „Titania“.
- Mieses Wetter: In Ein Sommernachtstraum wird das anhaltende schlechte Wetter zurückgeführt auf einen Streit zwischen Oberon und Titania. Die ewigen Regengüsse stimmen auffallend überein mit Quellen, die uns über die Witterungsverhältnisse im Jahr 1594 erhalten sind; es soll ständig geregnet haben und kalt gewesen sein, auch im Sommer: Die Ernte fiel schlecht aus, es gab Überschwemmungen und Rheuma, im Sommer musste geheizt werden. Wahrscheinlich arbeitete Shakespeare grummlig und in eine Wolldecke gewickelt das üble Wetter in seine Manuskripte mit ein.
Shakespeares Romeo & Julia
Natürlich müssen wir auch bei dem wohl berühmtesten Liebespaar der Literaturgeschichte vorbeischauen … Woher kommen Romeo und Julia? Wir alle kennen zwar Shakespeares Version der unglücklichen Liebesgeschichte; wenige wissen jedoch, dass er keineswegs der erste Dichter war, der ihre Wirren und Leiden niederschrieb.
Vor Shakespeare hatten bereits Masuccio von Salerno 1476 über „Mariotto und Gianozza“, Luigi da Porto um 1530 über „Romeo und Giulietta“ geschrieben; auch Matteo Bandello 1554 und Pierre Boaistuau erstmals auf Französisch schließen sich an. Ein gewisser William Painter veröffentlichte schließlich 1566/67 The goodly Hystory of the true, and constant Love between Rhomeo and Julietta in englischer Sprache.
Die Fechtszenen in dem Drama und die hitzige Sprache der Kämpfenden soll außerdem inspiriert worden sein von den vielen Fechtbüchern, die kurz vor dem Erscheinen von Romeo und Julia erschienen; das Fechten in England war um diese Zeit herum nämlich groß in Mode und jedermann sprach vom Fechten, wedelte selbst mit dem Säbel herum – oder las eben vom Fechten.
Auch Ovids Pyramus und Thisbe war Shakespeare bekannt und die Geschichte des unglücklichen Liebespaars (die zusätzlich auf Ein Sommernachtstraum einwirkte) wird höchstwahrscheinlich ebenfalls zu Romeo und Julias Erzählung beigetragen haben. Man vermutet jedoch, dass die Hauptquelle vor Shakespeares Stück ein (sehr) langes Gedicht von Arthur Brooke ist: The Tragicall Historye of Romeus and Juliet. Das Gedicht nimmt tatsächlich in etwa so viel Raum auf dem Papier ein wie Shakespeares Drama, unterscheidet sich in einigen inhaltlichen Punkten jedoch deutlich – so verurteilt die religiös gefärbte Einleitung beispielsweise die „unkeuschen Begierden“ des Liebespaares, anstatt ihre Verbindung wie bei Shakespeare als reine und ehrliche Liebe zu huldigen, die an ihren tragischen Umständen scheitern muss.
Shakespeares Kunst
Beispiele wie für jene oben aufgezeigten Stücke gibt es für beinahe alle Werke Shakespeares. Die Eingebung fiel für ihn nicht vom Himmel auf das täglich Frühstücksbrot, sondern er lieh sich von seiner Umwelt, modelte und formulierte um, dichtete hinzu, was ihm fehlte, oder strich weg, was fehlen durfte.
Auch, wenn Shakespeares Geschichten nicht allein seiner Phantasie entsprungen sind – welcher Künstler, welche Künstlerin erschafft ohne Inspiration? Ohne Anleihen hier und da? Was Shakespeare konnte wie kein anderer, das war das zu nehmen, was er sah, las oder hörte, und es umzuformen in eine Erzählung von so schöner Sprache und so reiner Form, dass sie noch immer heute unvergessen ist.